S. Müller u.a. (Hrsg.): Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse

Cover
Titel
Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse.


Herausgeber
Müller, Sven Oliver; Torp, Cornelius
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
461 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alexander Pinwinkler, Université Louis Pasteur Institut de recherches interdisciplinaires sur les sciences et la technologie (IRIST)

Der hier anzuzeigende Aufsatzband ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Jahr 2007 anlässlich des 75. Geburtstages von Hans-Ulrich Wehler im Wissenschaftszentrum Berlin stattgefunden hat. Die beiden Herausgeber Sven Oliver Müller und Cornelius Torp knüpfen erklärtermassen an Wehlers Forschungen zum Deutschen Kaiserreich an und streben eine kritische und weiterführende Auseinandersetzung mit diesem Thema an. Es lag daher nahe, in dem Band nicht nur Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern einen weit gespannten Aufriss der verschiedensten Forschungsfelder und methodischen Herangehensweisen zu bieten, die in der internationalen Historiographie zum Deutschen Kaiserreich bearbeitet und teils kontroversiell diskutiert werden. Dadurch erreicht der Band ein hohes Mass an Aktualität.

Der Aufbau des Sammelbands folgt einem vierteiligen Schema: Einer Darstellung des «Kaiserreichs in der deutschen Geschichte», die dem Bild des Deutschen Reichs in der Geschichte neue Konturen zu verleihen sucht, folgt als zweiter Abschnitt eine Serie von Aufsätzen zu «Gesellschaft, Politik und Kultur». Hier werden so unterschiedliche Themen behandelt wie z.B. die Bedeutung von modernen Massenmedien, Politik und Skandalen im Kaiserreich (F. Bösch), die (Gewalt-)Geschichte von Streiks und terroristischen Akten im Vergleich zwischen Deutschland und Frankreich (H.-G. Haupt) oder etwa die Frage, welche gesellschaftliche Bedeutung der Konfessionalismus hatte (O. Blaschke). Der Kultur und Praxis des Militarismus, des Krieges und des kolonialen Genozids gilt das Kapitel III. «Krieg und Gewalt». Der vierte Abschnitt «Das Kaiserreich in der Welt» wendet sich abschliessend jenen Forschungsfeldern zu, die das Reich auf dem Hintergrund seiner transnationalen Verflechtungen darstellen. Stichworte wie Globalisierung, Massenmigration und Kolonialismus stehen für innovative Forschungsimpulse, die gerade in den letzten Jahren unser Bild des ausgehenden 19. Jahrhunderts stark gewandelt haben.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die einzelnen Beiträge sich durch einen theoretisch avancierten und vielfach neue Fragestellungen anregenden, ambitionierten Zugang auszeichnen. Die Frage, bis zu welchem Grad der vorliegende Band sein Versprechen erfüllt, die bisherige Forschung zum Deutschen Kaiserreich zu bilanzieren und darüber hinaus Anregungen für weiterführende Arbeiten zu bieten, kann hier nur andiskutiert werden. Es muss aber hervorgehoben werden, dass die von den beiden Herausgebern in ihrer instruktiven Einleitung formulierten konzeptionellen Vorgaben in den einzelnen Beiträgen durchaus sichtbar werden. Der unausgesprochene Primat des Politischen, wie er noch in den Arbeiten zum deutschen «Sonderweg» erkennbar gewesen war, scheint endgültig überwunden zu sein. An die Stelle einer sozial- und wirtschaftsgeschichtlich erweiterten Politikgeschichte ist längst eine vielfältig ausdifferenzierte kombinierte Kultur-, Gesellschafts- und Politikgeschichte getreten. Die stark zunehmende Pluralität der Forschung lässt nicht zuletzt viel diskutierte Periodisierungsprobleme in einem neuen Licht erscheinen: So steht etwa bei der Erörterung der Frage, welche Kontinuitätslinien vom Kaiserreich ins 20. Jahrhundert ausstrahlten, nicht mehr «1933» im Fokus, sondern eher die Entgrenzung nationalsozialistischer Vernichtungspolitiken um 1939/41. Die zutiefst ambivalente «Moderne» des Kaiserreichs bietet auf diesem Hintergrund betrachtet ein wesentliches Untersuchungsfeld: Die 1890-er Jahre erscheinen so als spezifischer «Aufbruch in die Moderne» (Einleitung, S. 17), den vor allem Forschungen zur Wissenschafts- und Technikgeschichte hinsichtlich seiner weitreichenden gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen eindrucksvoll zu beschreiben vermochten. Zu diesem Themenfeld sucht man im Sammelband leider vergeblich Beiträge. Müller und Torp gehen allerdings in ihrer Einleitung allgemein auf die Bedeutung von «biopolitischen Expertendiskursen» für die Transformation der Gesellschaft des Kaiserreichs ein. Insgesamt betrachtet bleibt von der Lektüre des vorliegenden Bands ein ausgezeichneter Eindruck zurück. Es ist ihm eine zahlreiche Leserschaft zu wünschen.

Zitierweise:
Alexander Pinwinkler: Rezension zu: Sven Oliver Müller, Cornelius Torp (Hg.): Das deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 4, 2009, S. 482-483.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 4, 2009, S. 482-483.

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